25.04.2022
Nordamerika Nachrichten
Dieser Newsletter informiert deutschsprachige Leser über aktuelle Entwicklungen und Trends im Hochschulwesen der USA und Kanada.
Die Themen dieser Woche:
  • Verliert der Bachelor-Abschluss seine Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt?
  • Open Educational Resources: Hochschulbildung könnte erschwinglicher werden
  • Jenseits von Meritokratie?
  • Kurznachrichten
Liebe Leserinnen und Leser,
 
wir befassen uns in dieser Ausgabe mit dem sinkenden Interesse des Arbeitsmarkts am Bachelor’s Degree als Einstellungskriterium und mit den noch ungenutzten Chancen von Open Educational Resources (OER). Wir werfen zudem einen Blick auf mögliche Alternativen zum Prinzip der Meritokratie und – wie immer – auf verschiedene Kurzmeldungen.
 
Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre, Gesundheit, Geduld und Zuversicht.
 
 
Stefan Altevogt
Verliert der Bachelor-Abschluss seine Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt?
In der vergangenen Ausgabe zitierten wir zum „Marktwert“ des Bachelor’s Degree in den USA die zur dieser Frage regelmäßig veröffentlichten Zahlen des Centers on Education and the Workforce (CEW) an der Georgetown University. Zuletzt lag danach das Einkommensintegral mit einem Bachelor’s Degree im Median bei $2,8 Mio. und bei den einkommensstärksten 25% der Verteilung bei wenigstens $4,1 Mio. Nur mit einem Oberschulabschluss liegt das Integral im Median bei $1,6 Mio. und bei den einkommensstärksten 25% der Verteilung bei wenigstens $2,2 Mio.
Der Vollständigkeit halber hätten wir allerdings noch auf zwei weitere Werte schauen sollen, nämlich die mit Abschluss an einem zweijährigen Community College (Associate’s Degree) und die entsprechenden Werte von Hochschulabbrechern, die ja immerhin auf „some college“ und ggf. auf einige Zertifikate zurückblicken können. Das Einkommensintegral mit einem Associate’s Degree lag zuletzt im Median bei $2 Mio., die stärksten 25% der Einkommensverteilung kommen immerhin auf $2,9 Mio. Die Gruppe mit „some college“ kommt entsprechend auf $1,9 Mio. bzw. $2,7 Mio.
 
Sie finden die Zahlen hier.
 
Ein Beitrag in der New York Times befasste sich noch vor Ostern mit einer Entwicklung am Arbeitsmarkt, in deren Folge Arbeitgeber derzeit bei ihren Ausschreibungen für Stellen für Berufseinsteiger nicht mehr in gewohntem Maße auf einen Bachelor’s Degree bestehen. Die Protagonistin des Beitrags sei beim Computerhersteller IBM mit einem Associate’s Degree eingestellt worden, habe bereits im Alter von 21 Jahren ein Gehalt von über $100.000 und sei damit auf dem besten Wege zu einem Einkommensintegral, von dem viele Absolventen vierjähriger Colleges nur träumen könnten. Es heißt zur allgemeinen Entwicklung: „In the last few years, major American companies in every industry have pledged to change their hiring habits by opening the door to higher-wage jobs with career paths to people without four-year college degrees.”
Mehr als 100 Firmen hätten entsprechende Erklärungen abgegeben, die darauf abzielten, auch denen bessere berufliche Einstiegschancen einzuräumen, die vom Bildungssystem bislang vernachlässigt worden seien. Der Beitrag zitiert Ergebnisse einer Studie des Burning Glass Institute, das Arbeitsmarktdaten der Firma Emsi Burning Glass analysiert und anhand der Daten die folgende, der Covid-Pandemie bereits vorlaufende Entwicklung nachzeichnen könne: „In 2017, 51 percent required the [Bachelor’s] degree. By 2021, that share had declined to 44 percent.“ Mit diesen Änderungen trügen US-amerikanische Arbeitgeber der Tatsache Rechnung, dass noch fast zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung keinen vierjährigen Abschluss hätten. Bei den beiden großen Minoritäten läge der Anteil noch höher (76% bei Afroamerikanern und 83% bei Latinos). Zu den Anreizen für die Firmen, ihre Einstellungsvoraussetzungen entsprechend zu ändern, heißt es: „Companies that do change their hiring practices, they add, benefit by tapping previously overlooked pools of talent in a tight labor market, as well as diversifying their work forces.”
 
Sie finden den Beitrag hier.
 
Sie finden die zitierte Studie hier.
Open Educational Resources: Hochschulbildung könnte erschwinglicher werden
Einer der Kostenfaktoren in der US-amerikanischen Hochschulbildung sind die sog. „Textbooks“, also die Sammlung von verbindlichen Lehrmaterialien. Seit einigen Jahren verstärken sich daher Bemühungen, die Textbooks durch Open Educational Resources (OER) zu ersetzen und damit einen Beitrag zu leisten, das Studium erschwinglicher zu machen.
Ein Beitrag auf Inside Higher befasste sich in der vergangenen Woche mit der Veröffentlichung eines Untersuchungsberichts des Stanford Research Institute (SRI) mit dem Titel „Teaching and Learning With Open Educational Resources“, der Erfahrungen im Umgang mit OER an acht Community Colleges nachzeichnet. Ziel der Untersuchung sei die Feststellung gewesen, inwieweit OER und damit verbundene Open Educational Practices (OEP) zu einer Vereinheitlichung von Unterrichtsmaterialien und –praktiken führen könne und damit zu einer deutlich besseren Inklusion von bislang noch vernachlässigten Teilen der Bevölkerung. Es heißt: „The report concluded that the adoption of OER gave both teachers and students far more freedom in what they learned and how they learned, and it made students feel more in control of their education, safer in their classroom environments and more culturally connected to the material.”
Das sei dann aber auch schon das Ende der guten Nachrichten gewesen, denn bislang sei die Akzeptanz von OER bei Fakultätsmitgliedern und Hochschulleitungen noch überschaubar, trotz zahlreicher Bemühungen seitens einzelner Bundesstaaten, der Bundesregierung, einzelner Hochschulen und philanthropischer Einrichtungen. Es heißt: „While the study’s findings are mostly positive, there remain problems nationally with adoption of OER by faculty members themselves. These challenges exist despite efforts by some states and individual colleges, philanthropies and even the federal government to launch initiatives designed to fund the creation and build the awareness and ultimately adoption of high-quality open materials.”
 
Sie finden den Beitrag hier.
 
Sie finden den Report hier.
Jenseits von Meritokratie?
In einem Beitrag für den Chronicle of Higher Education zeichnet Steven Brint, Professor für Soziologie an der University of California at Riverside, die jüngere Geschichte von Meritokratie in den USA bis zu dem Punkt nach, an dem sie ihre gesellschaftliche Funktion verloren habe und nun durch ein auf die gegenwärtigen Notwendigkeiten besser angepasstes Auswahlprinzip zu Bestimmung gesellschaftlicher Funktionseliten ersetzt werden müsse. Meritokratie in seiner gegenwärtigen Form gehe in den USA auf die 1940er Jahre und wesentlich auf die Bemühungen des seinerzeitigen Präsidenten der Harvard University, James B. Conant, zurück, der den Zugang zu den Elitehochschulen und damit auch den Zugang zu den gesellschaftlichen Führungspositionen nicht mehr über familiäre (also dynastische) Verbindungen geregelt habe sehen wollen, sondern durch Ergebnisse landesweit vergleichbarer, also standardisierter Tests von Leistungsvermögen. Dieser Ansatz habe auch funktioniert, jedenfalls eine Zeitlang. Es heißt: „Harvard’s practices gradually spread throughout the Ivy League and beyond. Meritocracy was a revolutionary idea at the time it was introduced, and it worked as intended – at least for a while. Between 1945 and 1980, many high-scoring, highly motivated students who would not otherwise have been admitted began their ascents into positions of prominence by virtue of their admission into highly selective undergraduate colleges.”
Aber offensichtlich sei kein System so gut, auf Dauer nicht korrumpierbar zu sein, und inzwischen sei es so schlecht, dass die selektivsten Hochschulen des Landes die bestehenden Verhältnisse weitestgehend reproduzierten, indem sie einen weit überwiegenden Teil ihrer Studierenden aus den obersten Segmenten der Einkommensverteilung rekrutierten. Die derzeitige Reaktion vieler Hochschulen sei deshalb verständlich, nämlich die Abkehr von standardisierten Tests wie dem SAT als Bewertungskriterium für die Zulassungsentscheidungen. Er schreibt: „There will be some holdouts to test-optional admissions and some retrenchment, but it appears the meritocratic era is ending, and we should be thinking about what comes next.”
Als Nachfolgerin von Meritokratie schlägt Brint ein Konzept vor, das er „Civocracy“ nennt, angelehnt an die römischen Begriffe von „civica“ und „civica corona“, die dem neuzeitlichen Begriff des „citizen“ zugrunde lägen. Ein „civikratisches“ System der Auswahl gesellschaftlicher Funktionseliten müsse dem individuellen Ehrgeiz ebenso Rechnung tragen wie der Wertschätzung intellektueller Fähigkeiten und dem Leistungswillen. Es würde vor allen Dingen das Prinzip der Chancengleichheit deutlich ernster nehmen, als es die Meritokratie in den vergangenen Jahrzehnten getan habe.
Der Schlüssel für die Umsetzung einer in „Civikratie“ reformierten Meritokratie läge aber weiterhin in den Händen der Zulassungsstellen an den selektivsten Hochschulen des Landes. Ihnen schreibt er in das Pflichtenheft: „New approaches could include credit for effective follow-through on high-school projects (rather than for offices held); credit for taking a service year (or more) between high school and college; essay and interview prompts that explore applicants’ approaches to researching a civic problem; general-education curricula that focus to a greater degree on pivotal issues of today and the future; new forms of recognition for students who make outstanding public-oriented contributions; more lecture invitations to people who are working on the great issues facing the country and the world; and, funds permitting, the reduction of tuition or room-and-board charges for those who pursue careers outside of management consulting, finance, corporate law, or high tech.”
 
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Kurznachrichten
Die New York Times meldet den Rücktritt von Lee Bollinger als Präsident der Columbia University, Andrew Hamilton als Präsident der New York University und Wayne A.I. Frederick als Präsident der Howard University. Es heißt: „There is suddenly a long Help Wanted list for university presidents. In the past two days, the leaders of Columbia, Howard and New York Universities have announced that they are stepping down.”
 
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Der Chronicle of Higher Education meldet die Entscheidung der Iowa State University, mit der Association of American Universities (AAU) den elitärsten Verband nordamerikanischer Forschungshochschulen zu verlassen. Es heißt: „The decision to exit the association, Iowa State said in a statement, was driven by its sense that its core priorities didn’t match the AAU’s increasing focus on particular types of research.”
 
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Die entsprechende Meldung auf Inside Higher Education führt zu den Gründen etwas weiter aus und zitiert aus der Presseerklärung der Hochschule den folgenden Satz: „While the university’s core values have not changed since joining the association in 1958, the indicators used by AAU to rank its members have begun to favor institutions with medical schools and associated medical research funding.”
 
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Inside Higher Education meldet die Wahl des ehemaligen Präsidenten der Georgia State University, Mark Becker, zum künftigen Präsidenten der Association of Public and Land-grant Universities (APLU) und sieht darin die Bestätigung eines Trends der APLU, ihre Präsidenten nicht mehr aus den forschungsstarken Flaggschiff-Campi der öffentlichen Hochschulsysteme zu rekrutieren, sondern von Hochschulen, die einen erhöhten Wert auf die Lehre und den Studienerfolg auch für unterprivilegierte Schichten legten. Es heißt: „Georgia State is best known, by far, for its intense emphasis on (and comparative success in) driving its 50,000-plus students to complete their educations, increasing its graduation rate by 23 percentage points over a decade and eliminating the gaps between students from different racial and socioeconomic backgrounds that are prevalent throughout higher education.”
 
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Die kanadische Université de Montréal meldet eine Spende in Rekordhöhe von Can$159 Mio. von der Fondation Courois zur Stärkung der naturwissenschaftlichen Forschung an der Hochschule. Es heißt: „The largest donation ever made for the natural sciences in Canada will enable researchers in chemistry, physics, computer science and operations research to solve the greatest challenges of our time.”
 
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Der Chronicle of Higher Education meldet ein verstärktes Engagement von Eltern von Studierenden, die Hochschulen sicherer zu machen und nimmt als Beispiel die von Eltern gestartete Initiative „Buckeyes for a Safe Ohio State“, die nach dem Mordfall an einem Studierenden vor zwei Jahren gegründet wurde. Die Eltern seien nicht mehr von den Sicherheitskonzepten der Hochschulen überzeugt und würden die Dinge nun lieber in die eigenen Hände nehmen. Es heißt: „From Temple University to the University of Michigan at Ann Arbor, parents’ groups are calling on colleges to increase public-safety measures on and off campus, as violent crime spikes nationwide.”
 
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