13.02.2023

Nordamerika Nachrichten
Dieser Newsletter informiert deutschsprachige Leser über aktuelle Entwicklungen und Trends im Hochschulwesen der USA und Kanada.

Die Themen dieser Woche:

  • FAFSA und Pell Grants
  • Haben Geisteswissenschaften noch eine Zukunft?
  • ChatGPT
  • Kurznachrichten

Liebe Leserinnen und Leser,

 

wir befassen uns dieser Ausgabe mit der Free Application for Federal Student Aid (FAFSA) als Antrag zu einkommensabhängigen Studienbeihilfen wie den Pell Grants und mit der Frage nach der Zukunft von Geisteswissenschaften an Hochschulen. Wir werfen zudem einen wiederholten und aller Voraussicht nach nicht abschließenden Blick auf die Bedeutung der Fortschritte künstlicher Intelligenz auf die Vermittlung von Wissen und – wie immer – auf verschiedene Kurzmeldungen.

 

Ich wünsche eine interessante Lektüre.

 

Herzliche Grüße,

 

Stefan Altevogt

FAFSA und Pell Grants

Inside Higher Education meldet weitere Verzögerungen in den Bemühungen des Bildungsministeriums, den über die Free Application for Federal Student Aid (FAFSA) geregelten Zugang zu aus Bundesmitteln finanzierten Studienbeihilfen zu erleichtern, indem unter anderem eine im bereits 2020 verabschiedeten FAFSA Simplification Act beschlossene Vereinfachung des Antragsformulars umgesetzt werde. Bislang sei vorgesehen gewesen, am 1. Oktober das neue Formular vorzustellen, also drei Monate vor der im Gesetz vorgeschriebenen Frist am 1. Januar, doch signalisiere das Ministerium derzeit, den 1. Oktober nicht halten zu können.

Die Verzögerungen bei der Umsetzung des FAFSA Simplification Acts seien umso bedauerlicher, als das Formular das Herzstück des Systems föderaler Studienbeihilfen sei und sich Schüler, angehende Studierende, Studienberater, Hilfsorganisationen und Hochschulen auf den Antrag stützen würden, um jedes Jahr Milliarden an Bundesfinanzhilfen für Millionen von Studierenden zu erschließen. Je später die neue FAFSA erscheine, desto größer könnten Verzögerung bei der Übermittlung von Finanzierungsangeboten an Studierende werden, für die Studierenden folglich die Suche nach einem für sie geeigneten College erschweren, zumal Hilfsangebote einiger Bundesstaaten frühere Fristen hätten. Es heißt: „For example, students in Texas need to file the FAFSA by Jan. 15 in order to receive priority consideration for state aid. The deadline in Connecticut is Feb. 15. Many other states have similar deadlines, some of which are set by state statutes.”

 

Sie finden die Meldung hier.

 

Ein Beitrag befasst sich auf Inside Higher Education auf Grundlage einer Datenanalyse des National College Attainment Network (NCAN) mit dem Delta zwischen Beihilfeberechtigung und tatsächlichem Beihilfebezug im Pell Grant-Programm und schreibt: „Nearly $3.6 billion in Pell Grants wasn’t claimed by eligible high school seniors last year, a new analysis from the National College Attainment Network found. That’s a slight drop from the Class of 2021, which left $3.75 billion in Pell Grants on the table. NCAN’s latest report is the second in a series tracking unclaimed Pell Grant dollars.”

NCAN komme auf die Zahlen, indem für jeden Bundesstaat die Zahl der tatsächlich ausgefüllten FAFSAs mit Schätzungen zur Bezugsberechtigung von Pell Grants verglichen werde. So habe man landesweit etwa 767.000 Oberschulabsolventen errechnet, die das FAFSA nicht ausgefüllt hätten, obwohl sie für Pell Grants in Frage gekommen wären. Lege man nun noch die durchschnittliche Pell Grant-Zuwendung für das Studienjahr 2022-23 in Höhe von $4.686 zugrunde (bei einem derzeitigen maximalen Förderbetrag von $6.895), lande man beim Wert von $3,75 Mrd. „left on the table“.

Zu den regionalen Unterschieden dessen, was an Studienbeihilfen nicht abgerufen worden sei, zitiert der Beitrag aus dem Bericht die Worte: „Oklahoma, Florida, New Mexico, Arizona, and Nevada are the only five states whose FAFSA non-completion percentage and Pell Grant eligibility percentage are over 50%; consequently, these states (and their students) stand to gain substantially in terms of federal financial aid if they can increase FAFSA completion.”

Landesweit hätten zuletzt (in 2022) mit 1,65 Millionen etwa 41% aller Absolventen von Oberschulen keinen FAFSA ausgefüllt.

 

Sie finden den Beitrag hier.

 

Sie finden die Zahlen hier.

Haben Geisteswissenschaften noch eine Zukunft?

Eine Buchbesprechung in der New York Times hat Anfang Februar für einige Aufregung unter Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern an nordamerikanischen Hochschulen gesorgt. John Guillory habe in seinem jüngsten Buch „Professing Criticism” der geisteswissenschaftlichen Zunft den Zahn gezogen bzw. ziehen wollen, dass sie in ihrer Disziplin der Literaturwissenschaften etwas anderes leisten würden, als einen rein akademischen Binnendialog aufrecht zu erhalten. Es heißt: „But what literary criticism is not for, he argues, is what many of his colleagues think it is for: changing the world.” (Karl Marx hatte so etwas in seinen Feuerbach-Thesen mal den Philosophen vorgeworfen).

 

Sie finden den Beitrag hier.

 

In zwei Beiträgen widmet sich der Historiker Steven Mintz auf Inside Higher Education mit dem Buch Guillorys und fragt im ersten: „Can the English Major Be Saved? Have academic professionalization and specialization harmed the study of literature?”

Mintz bezeichnet „Professing Criticism“ als die wichtigste soziokulturelle Studie eines geisteswissenschaftlichen Bereichs, die ihm je begegnet sei, vor allem, weil sie auch als ein Warnsignal für Disziplinen wie Kunst- und Musikgeschichte, Geschichte und Philosophie tauge. Er schreibt: „It should be read not only by the English professoriate, but by its counterparts in art and music history, history and philosophy. Consider it a red alert, a cautionary tale, a fire bell in the night and an omen and admonition about how professionalization, specialization and bureaucratization can damage a field of study, even as it has benefited those with tenure, especially those who teach at the more selective institutions.”

 

Sie finden diesen Beitrag hier.

 

In einem zweiten Beitrag nimmt Mintz die Guillory-Kritik an den Literaturwissenschaften zum Anlass, sich Gedanken über die Zukunft von Geisteswissenschaften an Hochschulen insgesamt zu machen. In „Rethinking the Future of the Humanities” reduziert er die Problematik auf zwei zentrale Fragen, nämlich: „Are traditional disciplines, departments and fields the best way to organize teaching and research within the humanities?” und „How do we balance the humanities’ traditional role with its more recent emphasis on inclusion, power, discourse and identity?”

Während er die Frage nach organisatorischen Strukturen nicht weiter ausführt als bis zur Empfehlung, Departments als große Strukturen zu begreifen, in denen eine Vielzahl von Themen und Methoden vertreten sein dürften, sind seine Ausführungen zu den sich verändernden Aufgaben geisteswissenschaftlicher Forschung und Lehrer deutlich umfangreicher. Er schreibt: „Like it or not, we in the humanities are largely in charge of teaching students to express themselves clearly, whether orally or in writing. (...) I think it’s fair to say that no one is very satisfied with the results and AI text generating applications may well augment the problem. Teaching students to speak and write more clearly, stylishly and analytically is a responsibility we shouldn’t dodge.” In allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen müssten auch über das Fach hinausgehende Methoden wie Recherche, Quellenauswertung und -interpretation, und Argumentations- und Beweisführung vermittelt werden, im eigenen Fach der Geschichte sicherlich auch die Nutzung, Analyse und Visualisierung von Daten.

 

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ChatGPT

ChatGPT und mittlerweile auch andere auf dem Markt erscheinende, KI-unterstützte Chatbots tragen derzeit zu einer erheblichen Unruhe an Schulen und Hochschulen bei, weil Schüler und Studierende mithilfe Chatbots gegenüber den Lehrenden den Eindruck von Lernerfolg erwecken können. In einem Beitrag auf Inside Higher Education zog Jeremy Weissman, Philosophieprofessor an der Nova Southeastern University, in der vergangenen Woche eine Parallele zwischen ChatGPT und der Covid-Pandemie und titelte: „ChatGPT Is a Plague Upon Education.“

Wie auch bei Covid die Einsicht in die Dringlichkeit erst langsam, aber dann umso dramatischer wahrgenommen worden sei, verbreite sich die Befürchtung, dass ChatGPT etwas Grundlegendes in der Bildung ändern würde, seit Ende vergangenen Jahres erst langsam, mittlerweile aber so rasant, dass der Hashtag #chatgpt auf TikTok bereits mehr als eine halbe Milliarde Aufrufe verzeichnet habe. Wir seien durch ChatGPT, ein Chatbot mit künstlicher Intelligenz, der Aufsätze auf College-Niveau schreiben könne, mit einer neuen Art von Seuche konfrontiert, die unseren Geist mehr bedrohe als Covid unsere Körper. Er schreibt: „A lecturer at an Australian university found that a fifth of her students had already used ChatGPT on their exams. Scores of Stanford University students reportedly used it on their fall 2022 final exams mere weeks after its release. A critical mass, a superspreader event, is clearly forming.“

Doch statt angesichts des aus der Flasche entwichenen Geists (oder, um im Bild zu bleiben, Virus’) in Resignation zu verfallen, sollte man sich – falls noch nicht geschehen – als Allererstes mal mit ChatGPT vertraut machen, selbst wenn derzeit die Seite wegen des überwältigenden globalen Interesses oft nur noch holprig funktioniere. Er schreibt: „You have to see it for yourself to grasp what we are facing. Then you have to realize this is only the very beginning and that AI language models will grow in power exponentially.”

Hochschulen sollten – falls noch nicht geschehen – zeitnah eine KI-Expertengruppen bilden, möglichst auf der Ebene der Departments, um überhaupt Strategien entwickeln zu können, wie man fächerspezifisch mit den wachsenden Möglichkeiten von KI umgehen wolle.

Der Schwerpunkt der Studierendenbetreuung müsse wieder in Richtung der Klassenräume und der persönlichen Interaktion verlagert werden, Lernerfolge müssten wieder vermehrt mündlich oder handschriftlich abgeprüft werden oder an Computern, die nicht mit dem Internet verbunden sind.

Es müssten Kursangebote zum Arbeiten mit Chatbots entwickelt werden, die den Umgang mit KI in einen pädagogisch sinnvollen Rahmen brächten und man müsse schließlich Protokolle für den betrügerischen Umgang mit Chatbots entwickeln und entsprechende Software zur Aufdeckung von akademischem Fehlverhalten jeweils aktuell halten.

Er schreibt: „Now, where there is crisis, there is opportunity.” Die Covid-Pandemie habe unter anderem zu revolutionären Veränderungen in der Arbeitswelt geführt und ChatGPT zwinge uns jetzt zum Nachdenken über Lehr- und Beurteilungsmethoden. Man könne das nicht länger ignorieren, sondern Pädagogen müssten akzeptieren, dass sich Bildung insgesamt an einem Scheideweg befinde. Die Art und Weise, wie wir jetzt auf Chatbots reagierten, dürfte einen durchschlagenden Einfluss auf die kommenden Jahrzehnte haben. Er schreibt: „I recommend we do all we can as educators to cultivate the powers of the human mind in the face of this novel threat to our intelligence.”

 

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Kurznachrichten

Der Chronicle of Higher Education meldet unter Bezugnahme auf Finanzdaten des Integrated Postsecondary Education Data System, dass 61% der US-amerikanischen Hochschulen durch die einsetzende Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 zum Teil erhebliche Einnahmeverluste bei den Studiengebühren hätten hinnehmen müssen, am deutlichsten öffentlich finanzierte Community Colleges. Es heißt zur Bedeutung dieser Einnahmequelle: „Net-tuition revenue – the money that institutions earn through enrollment minus any discounts and allowances provided to students – is the lifeblood of many universities. It’s the largest source of revenue for private four-year colleges, and it accounts for just over $1 of every $5 of revenue for public four-year institutions, about the same, on average, as their combined earnings from state grants, contracts, and appropriations.”

 

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Der Chronicle of Higher Education listet die im Fulbright-Programm des US-amerikanischen Außenministeriums erfolgreichsten Hochschulen. An die University of Arizona und die Penn State University gingen danach zuletzt jeweils 17 Stipendien für Fulbright-Scholars, danach folgen Brigham Young, Oregon State und Michigan State mit jeweils neun und die University of Illinois at Urbana-Champaign und die University of Wisconsin at Madison mit jeweils acht. In der Programmschiene „Fulbright Students“ führte zuletzt die Georgetown University mit 49 Stipendien (bei 148 Bewerbungen) das Feld an, gefolgt von Princeton (36 von 93) und Brown (30 von 143).

 

Sie finden die Zahlen hier.

 

Ein Beitrag auf Inside Higher Education diskutiert Wert und Sinn verschiedener Modi von Fristsetzungen für Studierende durch Lehrende an Hochschulen, ob es zum Beispiel sinnvoller sei, eine Frist in fernerer Zukunft, oder mehrere kurzfristige Wegmarken zu setzen. Hochschule sei auf der einen Seite ein sehr „prokrastinationsfreundliches“ Umfeld, doch müssten Studierende auch für das Leben außerhalb der Hochschule und auf das Leben eines Erwachsenen vorbereitet werden, der selbst Verantwortung für die Erreichung von Zielen übernehmen könne. Man hält Studierende in den USA auf diesem Weg offensichtlich noch nicht für weit genug fortgeschritten. Es heißt: „When students’ still-developing executive function skills [gemeint ist hier die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren] are paired with academe’s procrastination-friendly environment, the result can create a perfect storm. But speeding up students’ developmental growth rarely happens in an instant.”

 

Sie finden den Beitrag hier.

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